Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei deiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.
Diese Worte sind in der Rückschau auf ein Leben voller Zweifel, voller Widersprüche und Anfechtungen gesprochen. Sie gewinnen an Eindeutigkeit, Klarheit und Entschlossenheit, wenn der Anfang dieser Worte aus dem hebräischen Urtext genauer wiedergegeben wird mit „und doch bin ich stets bei dir; du hältst mich…“ Dazu muss man eigentlich noch die ersten 22 Verse des Psalms mitlesen, um diese Entschlossenheit verstehen zu können – nicht als trotziger Widerstand, wie es das „dennoch“ nahe legt, weil er sonst an Gott irre zu werden droht, sondern als Bekenntnis zu ihm trotz alledem. Der Psalmist erzählt, wie sein Glaube auf der Kippe steht.
Er leidet elendiglich – nicht nur unter körperlichen Qualen, sondern vor allem, weil es anderen, die von Gott nichts halten, viel, viel besser geht als ihm, der Gott stets treu war und seine Weisungen genau befolgte. Sie erlauben sich alles, um ein sorgloses, „fettes“ Leben zu haben. Gottes Wille ist ihnen da egal. Und wie schlimm in seinen Augen: Gott lässt das alles geschehen! Er ist enttäuscht über ihn, wird fast irre an ihm, denn sein Ergehen scheint ihn gar nicht zu interessieren. Fast 22 Verse lang lesen wir, wie tief das bei ihm drin ist und ihn fast „zerreißt“.
Neulich las ich eine Leserzuschrift in der Tageszeitung. Da schilderte eine ältere Frau, im Glauben erzogen und ihren „Pflichten“ als Glied der Kirche stets nachgekommen, ihre große Enttäuschung über Gott, weil er ihr in großem Leid nicht geholfen habe. Sie sei dadurch zu einem ungläubigen Mensch geworden, schrieb sie.
Vielen Menschen, die sich angesichts eigenen Leides und bitterer Erfahrungen von Gott ungerecht behandelt fühlen, geht es ähnlich. Sie sind zutiefst angefochten und zweifeln an seiner Güte und Liebe. Solche Anfechtungen sind uns allen nicht fremd, auch wenn die meisten nicht so tiefe, schwere Erfahrungen machen müssen. Denn jeder Mensch hat Sehnsucht nach einem glücklichen Leben und wartet auf ein glückliches, erfülltes Ende seiner Träume und Erwartungen. Doch viele Träume platzen und viele Hoffnungen sterben am Ende an Enttäuschungen. „Das dicke Ende kommt zuletzt“, so die Erfahrungen vieler.
Aber wie kommt es dazu, dass der Psalmist dieses vertrauensvolle „und doch bin ich bei dir“ bekennen kann, sich bei Gott geborgen weiß und ihn daher nun nicht loslässt? Er ging, so in Vers 17, in den Tempel. Dort, im Heiligtum Gottes, in der Nähe Gottes, ereignet sich die Wende von der Klage zum Vertrauen zu Gott, zu seiner Gnade und Liebe. Etwas „Letztes“, bisher Verhülltes im Handeln Gottes wird ihm dort gewahr. Er bekommt auf einmal „den Durchblick“ durch die Widersprüche des Lebens und der Geschichte und die Gewissheit, unverbrüchlich zu Gott zu gehören, selbst wenn sich äußerlich nichts verbessert und Leib und Seele verschmachten (Verse 25-26). Wie sich diese Wirklichkeit von Gottes Liebe und gerechtem Verhalten dem Psalmist offenbarte, wissen wir nicht. Aber entscheidend war sicherlich, dass er die Nähe Gottes suchte und ihm seine Zerrissenheit, seine Enttäuschung und Klage vorbrachte.
Darin sehe ich das Entscheidende: Auch wenn die Bitternis und die Enttäuschung über Gottes vermeintliche Abwesenheit im Leben sehr groß sind, so bekommt Hilfe und Gewissheit von Gottes Führung und Geborgenheit bei ihm der, der sich in seine Nähe begibt, ihn zu Wort kommen lässt und ganz offen ist für ihn. In Jesus Christus ist Gott selbst schon zu uns Menschen gekommen. In seinem Geist will er uns gegenwärtig sein und in alle Wahrheit führen – in die Wahrheit seiner göttlichen Liebe zu uns, seiner Begleitung durch unser Leben und durch den Tod hindurch und ewiger Geborgenheit bei ihm. An Jesus, an Gottes Liebe zu ihm, an Jesu Wirken und an seiner Auferstehung können wir ablesen, wie Gott durch alles Leid und alles Elend und selbst durch den Tod hindurch den festhält und mit neuem, vollendeten Leben beschenkt, der mit seiner Klage und seinem Elend dennoch zu ihm kommt. An Jesus können wir Gottes Liebe erkennen, die niemanden in Stich lässt, egal wie gut oder schlecht es einem im Leben geht. Nicht von ihm abwenden, sondern sich ihm zuwenden und bei ihm bleiben, dann kann am Ergehen des Gekreuzigten und Auferstandenen erkannt und erfahren werden, was bereits dem Psalmist offenbart wurde: Du hältst mich bei deiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. So ist Gott – gegen allen Anschein von Leid, Not, Elend und Tod in unserer noch unerlösten Welt.