Oktober 1942. Verdunkelung in München wegen der vielen Luftangriffe. Aber im Opernhaus wird noch gespielt. Das letzte große Bühnenwerk von Richard Strauss hat Premiere: „Capriccio“. Und genau damit beginnt die Inszenierung von Anthony Pilavachi. In einem einst herrschaftlichen, jetzt von Kriegsspuren gezeichneten Theatersaal treffen sich Musiker zur Probe des Streich-Sextetts. Ist der, der sie begrüßt, Richard Strauss selbst? Nach kurzer Zeit eine Unterbrechung: Sirenen, Fliegeralarm! Flakgeschosse, Panzerlärm, Einschläge in nächster Nähe, Qualm füllt den Raum, Feuerschein hinter den zersprungenen Fenstern. Noch einmal die Sirene, dann versammeln sich die Musiker wieder und spielen das Sextett durch, während der Theaterdiener das riesige Barockgemälde, das den Raum dominiert, vom Staub des Angriffs zu reinigen versucht. Dieses Bild weckt in mir sofort einen Verdacht.

Und tatsächlich. Perfekt gemachte Illusion! Nachdem das Stück zu Ende und die Musiker auf Zehenspitzen gegangen sind, um den am Flügel eingeschlafenen Komponisten nicht zu wecken, steigen – in seinem Traum und der Meininger Bühnenwirklichkeit Flamand und Olivier in barocker Kostümierung (Bühnenbild und Kostüme: Tatjana Ivschina)aus dem Bild.

Dass anlässlich des 325jährigen Jubiläums der Meininger Hofkapelle unter Leitung von GMD Philippe Bach das „Konversations-stück für Musik in einem Aufzug“ (in Meiningen mit einer Pause – „Wir werden die Schokolade hier im Salon einnehmen.“) auf den Spielplan gesetzt wurde, ist mutig und zeigt den Anspruch, den dieses Orchester an sich hat. Doch es bedarf noch einiger Finessen, damit sich dieses filigrane Klangkunstwerk wirklich entfaltet. Denn hier geht es um durchhörbare Konversation, viel, viel Text und eine filigrane Orchestrierung, in Folge daher um die besondere Schwierigkeit der Balance zwischen Wort/Ton auf der Bühne und im Graben. Die dynamische Feinabstimmung und die Klangbalance darf noch verbessert werden. An diesem Abend war das Sängerensemble häufig stärker als das Orchester hörbar, wobei nicht alle Protagonisten ausgewiesene Meister des Parlando waren. Die beiden Ensemble (Lach- und Streit-Oktett) gerieten dann doch so, dass ich an das Urteil der Dienerschaar, die den Herren aus dem Chor des Meininger Theaters im Übrigen ausgezeichnet gelang, erinnert wurde: „Das war ein schöner Lärm – und alle durcheinander!“

Sehr charmant Camila Ribero-Souza als junge aristokratische Witwe, voller Emotion und mit besonders in der Finalszene glänzend entfalteter Klangpracht. Einzig nicht ganz nachzuvollziehen war Pilavachis Idee, sie nach ihrer Verabredung mit Flamand geradezu in Tränen versinken zu lassen. Das sagt die Musik nicht! Die beiden sie umwerbenden Herren waren nicht ganz auf einer (Klang-)Ebene: Olivier (Marián Krejcík) schien mir sogar von der Regie etwas benachteiligt zu sein – oder spielte/sang sich sein Gegenüber (Daniel Szeili) einfach optisch und stimmlich prägnanter in den Vordergrund?! Der setzte sein Spieltalent pointiert ein und konnte besonders die lyrischen Phrasen mit Strahlen meistern.

Dae-Hee Shin ist stimmlich eine Idealbesetzung des Grafen, punktete mit seinem kultivierten Nobelbariton und bester Verständlichkeit, auch und nahezu akzentfrei im (gesprochenen) Sonett! Chapeau!

An seiner Seite herrlich kapriziös Rita Kapfhammer als Claironmit ihrem voluminösen Mezzo, Witz und rollengemäßem Selbstbewusstsein. Ernst Garstenauer als La Roche (oder Richard Strauss höchstselbst) passt in die Rolle, doch gelingt es seinem trockenen Bass nicht, das Parlando mit Klang zu füllen. Überzeugend gestaltete er seinen Monolog, der gesanglich durchaus hohe Anforderungen stellt. Pilavachi lässt die übrigen Protagonisten hier weitgehend in Freeze-Stellung verharren, stellt La Roche also frei – und hält die Zeit an.

In der letzten Spielzeit umjubelte Traviata, jetzt völlig typverändert alsitalienische Sängerin: Elif Aytekin! Ihr Partner, der neu engagierte Südafrikaner Siyabonga Maqungo hörte sich etwas dünn an, stieß in der Höhe noch an Grenzen, spielte aber engagiert mit.

Zwar verlegt Pilavachi die Handlung ins Jahr der Uraufführung, aber zugleich sind im Laufe des Abends drei Zeiten auf der Bühne zu sehen! Die Entstehungszeit der Oper, eine Salonszene im 18. Jahrhundert mit dem Streit (Wort oder Ton?) und ein Rückgriff auf Oper der Barockzeit einschließlich himmelblauer Pappwolkentürme. Dort hinein zauberhaft choreographiert und getanzt von Julia Grunwald mit Nikolay Korobko - das Pas de deux.

Tränen in die Augen trieb mir Mr. Taupe. Es waren keine Lachtränen. Pilavachi inszeniert das Erscheinen eines ängstlichen Mannes mit gelbem Judenstern an der zerschlissenen Jacke. Immer wieder versucht er, ihn zu verbergen und verbirgt ihn doch nicht. So anrührend zeigt und verbirgt gleichermaßen Stan Meus seine Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Wie nötig hat er das Angebot des Haushofmeisters (Mikko Järviluto), sich zu stärken! Als La Roche alias Richard Strauss ihn entdeckt, umarmt er ihn wissend und innig. Dazu der As-Dur-Teil der Mondscheinmusik. Das war fast zu viel.

Ein letztes Mal - zum abschließenden Monolog - steigt die Gräfin aus dem Barockgemälde. „Wort oder Ton?“ Sie hat es nicht entschieden. Vielleicht aber Richard Strauss? Im siebt- und sechstletzten Takt des Nachspiels erklingt das Motiv Flamands, sonst eng mit dem Oliviers verschlingen, zweimal alleine. Heimliche Entscheidung für den Schluss der Oper?

 

Zwei Hinweise: Einen sehr gut gemachten Trailer und weitere musikalische Ausschnitte bietet die homepage www.das-meininger-theater.de. Weitere Termine: 1.11., 28.11., 5.12., 20.12., 12.2.2016, 18.5., 26.5.

Im Foyer des 3. Rangs kann eine Ausstellung zur 325-jährigen Geschichte der Meininger Hofkapelle besichtigt werden. Dort finden sich neben Bildern, Instrumenten, Noten, Kostümen und historischen Dokumenten u.a. Grußschreiben ehemaliger Dirigenten, darunter Kirill Petrenko, der schreibt: „Meine Meininger Zeit ist die Basis für meine ganze darauffolgende Karriere gewesen. Es waren unschätzbare Lehrjahre. Ich war noch nicht einmal 30 Jahre alt und mir wurde der Ring mit der Meininger Hofkapelle anvertraut – Wagners Stammorchester! Etwas Besseres kann einem Dirigenten nicht passieren, und ich wünsche jedem jungen Kollegen, auf diese Weise Erfahrung sammeln und sich ein Fundament schaffen zu können. Ich habe sehr viel Glück gehabt, dass ich in Meiningen beginnen und dort Menschen treffen durfte die Visionen hatten und diese Visionen in die Realität umsetzen wollten. Dafür werde ich immer dankbar sein.