Es ist schon einige Zeit her. Ein Mann, Mitte dreißig, sichtlich am Ende seiner Kräfte, kam vor einem Gottesdienst zu mir. Er will beichten, denn er habe Schlimmes getan. Dann bricht es aus ihm heraus. Mit schlotternden Knien erzählt er von den jahrelangen Auseinandersetzungen mit seinem Vater. Zuletzt erschlug er ihn fast. Aus Angst und Entsetzen flog er nach London, irrte umher, kam wieder zurück und suchte nun Hilfe bei mir.
Ein anderer, der Erzvater Jakob, war auch immer wieder auf der Flucht, so lesen wir im 1. Buch Mose. Er erkaufte sich mit einem Linsengericht das Erstgeburtsrecht von seinem Bruder Esau und erschlich sich den Erstgeburtssegen von seinem Vater Isaak. Nun muss er vor ihnen fliehen. Bei seinem Onkel Laban in Haran kommt er unter. Beide betrügen sich gegenseitig. Zunächst geht es um Labans Tochter Rahel, die Jakob zur Frau haben will. Laban schiebt ihm jedoch in der Hochzeitsnacht seine ältere Tochter Lea unter. Er muss noch einmal viele Jahre arbeiten, bis er Rahel bekommt. Dafür betrügt er seinen Onkel bei der Aufteilung der Viehherden.
Nun muss er, nach 20 Jahren in Haran, erneut fliehen. Ihn zieht es zurück in seine Heimat. Er weiß, dort wird er Esau begegnen. Davor hat er Angst. Auf dem Weg dorthin muss der Fluss Jabboq überquert werden. All seine Habe, seine Frauen, Kinder, Mägde und Viehherden bringt er nachts über den Fluss. Er selbst bleibt zurück. Da überfällt ihn ein Mann und ringt mit ihm. Jakob kann ihn nicht erkennen, aber es geht ihm auf, dass er mit Gott ringt. In dem Kampf geht es um Leben und Tod, bis Jakob ihn bittet: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest (Lutherbibel: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.). Nun bricht die Morgenröte an. Die Sonne geht auf. Und Gott gibt ihm einen neuen Namen: „Israel“, übersetzt „Gott kämpft“. Von da an ist er ein anderer: Zwar ein Gezeichneter, der fortan hinken wird. Aber trotz allem ein Gesegneter, einer, der Gott seinen Segen regelrecht abgetrotzt hat.
Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Neben dem Eingeständnis seiner Grenzen, seiner Angst und somit seiner Kapitulation war dies nun die Bitte: „Ich halte an dir fest. Ich appelliere an dein Gnade, ich lasse nicht von dir ab.“
Jakobs Geschichte – es ist eine Geschichte, wie sie heute noch tagtäglich vorkommt, wie z.B. im eingangs erzählten Erlebnis. Denn, müssen nicht auch wir uns immer wieder eingestehen, dass wir oft nicht weiterkommen und an unsere Grenzen stoßen, wie auch immer sie heißen? Dass uns Lebensperspektive genommen wird, z.B. durch Krankheiten und sogenannte Schicksalsschläge? Spüren wir dann nicht auch unsere Ohnmacht, unsere Enttäuschung und Trauer darüber, nicht so leben zu können, wie wir es gedacht, geplant oder erträumt hatten?
Die Geschichte Jakobs zeigt, auch an der Grenze unserer Möglichkeiten haben wir es mit Gott zu tun. Er verlangt uns oft viel ab, mutet uns viel zu und setzt uns Grenzen. Er aber will uns nicht vernichten, sondern will uns alles schenken, was zum wahren Leben nötig ist. Um solchen Segen können wir nur bitten, weil wir ihn uns nicht selber zusprechen können. Der Segen Gottes ist eine Gabe, um die wir im Gebet immer wieder neu zu ringen haben. Gott will, dass wir uns auf ihn berufen, denn er hat uns seine Gnade verheißen. Dann zeigt sich Licht am Ende des Tunnels. Es wird hell in der Dunkelheit. Die Morgenröte zeigt sich, ein neuer Tag. Neues Leben wird möglich, wo es bisher finster und dunkel war. Freilich muss sich nicht immer Gottes Segen in der glücklichen Wende einer Not oder Angst zeigen wie bei Jakob. Oft bleiben Blessuren und Schmerzvolles wie bei ihm auch. Sein Segen kann auch innere Stärkung bewirken, die uns befähigt, die Last zu tragen, die uns auferlegt ist, und neue Wege zu gehen – Wege ins Leben, Wege der Versöhnung und des Friedens. Niemand muss in der Nacht des Dunkels und des Todes bleiben. Gott lässt die Sonne wieder aufgehen für den, der ihm nicht ausweicht oder ihn links liegen lässt, wenn es mal hart kommt, sondern mit ihm ringt und den Segen von ihm erbittet.
So ähnlich ging dann auch meine Begegnung mit dem Mann vor dem Gottesdienst aus. Nachdem er mir alles gesagt hatte, ich ihm von der Barmherzigkeit Gottes erzählt hatte und ihm aufzeigte, was er nun tun sollte, bat er um den Segen. Und wie ich ihn segnete, da entspannte er sich. Und mit einem Lächeln, aus dem Erleichterung und Freude abzulesen waren, ging er wieder seiner Wege.