Haltestopp einer Regionalbahn, mit der ich unterwegs bin. Ein Jugendlicher kommt ins Abteil, reißt die Arme hoch und stürzt auf einen anderen in etwa dem gleichen Alter zu. Sie umarmen und knuddeln sich überschwänglich. Kaum hatten sie Platz genommen, zückt jeder sein Handy. Beide sind nun im Schweigen versunken. Nur an der Mimik und an ihren Bedien-Gesten am Handy ist zu erahnen, was sie da gerade auf ihm wahrnehmen. Nach etwa 20 Minuten hält der Zug auf einem Bahnhof. Einer will aussteigen. Der Abschied ist kurz. Mein Fazit: So richtig wahrgenommen hatten sie sich wohl nicht, und schon gar nicht andere Fahrgäste.
In einer Zeitschrift schilderte eine 17-Jährige, unter welch psychisch starkem Druck sie steht: „Wenn man online Bilder von sich postet und andere diese liken, ist das eine Art Bestätigung, wie ein Kompliment. Wenn man viele Likes erhält, fühlt man sich gut. Als ich früher abends ein Bild ins Internet stellte, griff ich morgens als Erstes zum Handy, um zu sehen, ob es gut ankommt. Fast wie ein Süchtiger … Viele sind heute nonstop online, es ist schwierig, sich abzugrenzen. So gibt es nie wirklich Ruhe vor dem Stress, sich profilieren zu müssen, auch weil heute jeder Popstar auf Instagram ist und so die Maßstäbe extrem hoch setzt. Man fühlt sich von der ganzen Welt bewertet.“

Beides ist schon ein paar Jahre her. Heute können wir infolge von neuen Möglichkeiten durch die Online-Dienste eine Zunahme solchen Verhaltens – im Übrigen nicht nur unter Jugendlichen und Menschen mittleren Alters – feststellen. Dieser Tage wurde berichtet, dass es gerade „in“ ist, möglichst viele Follower beim Essen online zusehen zu lassen. Die interviewte Frau sagte, ihr sei wichtig, dabei eine möglichst große Gemeinschaft um sich zu haben. Sie brauche das.

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Ein schöner Spruch Jesu für alle Tage im neuen Jahr. Er verheißt Freundlichkeit, Licht und Wärme, Hilfe und Geborgenheit. Zu ihm sollen besonders kommen die Mühseligen und Beladenen. Denn er will sie erquicken, wie wir im Matthäusevangelium lesen (Mt 11,28). Schön, dass der Spruch uns nun das ganze Jahr 2022 begleitet. Jesus lädt sie alle ein. Keinen wird er abweisen. Ja, das verspricht er.
So möchten und sollen wir als seine Kirche auch sein: offen und einladend für alle. Und wenn sich Menschen für Jesus interessieren – auch und gerade diejenigen, die wir sonst im kirchlichen Bereich kaum sehen – dann sind wir sehr erfreut und hoffen, dass der Weg dieser Leute einmal im Glauben endet. Für viele ist das, was wir in der Kirche im Namen Jesu machen, ja nicht ganz uninteressant. Etliche kommen quasi als Zaungäste – nicht zu nah, sondern mit einer gewissen Distanz zu uns. Besonders nahe aber kommen sie zu musikalischen Veranstaltungen. Schön, wenn unsere Einladungen an sie, auch unsere Gemeindeveranstaltungen zu besuchen, angenommen werden. Ansonsten aber halten sie sich oft sehr zurück. Dafür gibt es sehr viele Gründe. Manche z.B. verspüren eine gewisse Fremdheit bei dem, was wir da in unseren Gottesdiensten und sonstigen Veranstaltungen tun und möchten sich nur schwer auf das einlassen, was ihnen da begegnet. Manche haben auch abstoßende oder gar verletzende Erfahrungen mit Pfarrern, Pastorinnen, kirchlichen Mitarbeitern, Kirchenältesten, sonstigen Ehrenamtliche, mit der Kirche generell gemacht. So sagte mit einmal ein Mann, der mit viel Freude seiner Tochter beim Erstellen von Kulissen in der Kirche half und den ich dabei als kenntnisreichen Christ wahrnahm, dass er gern in der Gemeinde aktiv mitarbeiten würde. Aber alles werde dominiert von einer Handvoll Leuten, die seit vielen Jahren der ganzen Arbeit ihren eigenen Stempel aufdrückten und nichts anderes zuließen. „Wer sich da nicht unter- und einordnet, ist eigentlich draußen, auch wenn er noch so sehr in der Gemeinde mitmacht. Das vergrault einen jeden.“ Tja, das ist nicht einladend und freundlich – und leider auch kein Einzelfall.

(Text Jes 11,1-10 verlesen)

Liebe Gemeinde!
Nicht wahr, diese Bilder sprechen uns besonders in der Weihnachtszeit an. Bilder von einer friedvollen Welt, einer Welt voller Glück und Harmonie. Mancher von uns sehnt sich gerade in diesem Jahr danach, wo doch durch die Corona-Pandemie vieles nicht mehr so ist wie vorher – trostloser, heilloser. Selbst die sonst gewohnte Weihnachtsstimmung will sich deshalb nicht einstellen. Doch vielleicht ist dadurch bei manchem die Sehnsucht nach einer solchen Welt stärker geworden. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Angst davor, dass Krankheitserreger wie Corona und Krebs uns oder anderen Menschen und auch Tieren etwas antun könnten. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne jeglichen Mangel und Not, ohne Benachteiligung, ohne Unterdrückung, ohne Verletzung der Würde des Menschen, ohne Gewalt, sondern voller Frieden und Glück. Ja, solche Sehnsuchtsbilder haben wir, auch wenn unser Verstand sagt, dass es wohl ein utopischer Traum bleibt. Aber träumen darf man ja, gerade zu Weihnachten, auch wenn die Realitäten in unserer Welt seit Menschengedenken hart dagegen stehen.

Und träumen soll man sie, solche Zukunftsträume. Das ist nicht sinnlos. Denn wenn wir ihnen nachgehen, so entfalten sie Kräfte in uns zu Veränderungen, und das selbst dort, wo es so aussieht, als wären irgendwelche Notwendigkeiten und Zwänge alternativlos – wie es heute so oft heißt -, oder wo es aussichtlos und vergeblich erscheint. Zukunftsträume, Visionen bringen etwas in Bewegung, auch wenn das visionäre Ziel letztlich nur bruchstückhaft und gänzlich unvollkommen erreicht wird.

Viele kennen Martin Luther Kings Rede im Jahr 1963 in Washington über seinen Traum, dass Erwachsene und Kinder aller Rassen und Religionen gleichberechtigt und friedlich miteinander aufwachsen und leben. Der Traum wuchs zu einer Bewegung an, die bewirkte, dass in den Jahren danach die Rassentrennungs- und Diskriminierungsgesetze in den USA aufgehoben wurden.

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Ein kurzer, knackiger Satz Jesu, der – so werden wir es noch sehen - es in sich hat.
Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Auf einem Felde hält er seinen Jüngern und einer großen Volksmenge aus nah und fern eine Rede. Sie stimmt in großem Umfang mit der Bergpredigt im Matthäusevangelium überein. Sein Satz „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ hat darin gewissermaßen eine zentrale Stellung.

Was Barmherzigkeit bedeutet, ist uns nicht fremd. Sie ist eine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur. Sie gehört zum Wesen des Menschen dazu. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an. Ein Mensch ohne ein Fünkchen Barmherzigkeit wäre kein wahrer Mensch. Damit ist aber noch nichts ausgesagt darüber, welchen Stellenwert sie überhaupt im Handeln des Menschen haben soll. Darüber gab und gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. In der griechischen Philosophie wurde die Barmherzigkeit im sittlichen Handeln im Allgemeinen nicht besonders hervorgehoben. Immanuel Kant lehnte sie als sittlich minderwertig ab, bejahte aber „tätiges und vernünftiges Wohlwollen“. Friedrich Nietzsche meinte, als weichlicher Selbstgenuss vermehre sie nur das Leiden in der Welt. Friedrich Hegel hält sie für unbedeutend, denn Wohltun sei Aufgabe des Staates. Karl Marx sieht sie wie die Mildtätigkeit als Kumpanei mit den Herrschenden und Ausbeutern.

Einer Frau mit zwei Kindern ist der Mann weggelaufen, weil er eine andere hat. Große Wut darüber, dass seine Liebe nun einer anderen gilt und er das Familienglück und das Vertrauen zueinander so zerstört hat. Die Frau ist untröstlich. Eine Freundin versucht ihr beizustehen und sie zu trösten. „Das ist schlimm, was er euch da antut“, sagt sie. „Doch dass er die vielen Jahre mit euch einfach wegschmeißt, als wäre es nichts, das kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Das wird ihn über kurz oder lang sicher sehr zu denken geben. Deshalb: Wenn´s auch jetzt weh tut, es wird schon wieder. Du musst nur fest dran glauben.“ Die Freundin will trösten und Zuversicht auf einen doch noch irgendwie positiven Ausgang wecken.

„Es wird schon wieder. Du musst nur fest dran glauben.“ Und manchmal wird noch ergänzt: „Du weißt doch, Glaube kann Berge versetzen.“ So oder so ähnlich hören wir es immer wieder, z.B. an Krankenbetten, nach Unglücken oder schweren Schicksalsschlägen. Doch so einfach ist es mit dem Glauben nicht. Die meisten, die das so sagen und denen diese vermeintlich tröstlichen Worte gesagt werden, wissen, dass in einem solchem Glauben nicht die Kraft steckt, auf die man hofft. Und dass es zudem keinen Automatismus in der Art gibt: Je stärker der Glaube, umso mehr tritt Besserung ein. Freilich, manchmal können zwar die eigenen Kräfte beispielsweise zur Heilung und Genesung mobilisiert werden, indem man sich mit aller Energie dagegen auflehnt und dagegen kämpft – nach innen wie nach außen. Aber dass sich das erfüllt, was man sich erhofft, indem man nur fest daran glauben muss, das ist nicht nur trügerisch, sondern kann in eine tiefe Krise stürzen, wie ich es vor etlichen Jahren einmal erlebte.